Zustellung beim freundlichen Nachbarn: Lauf der Widerrufsfrist beginnt erst mit Zugang beim Adressaten!
Die Widerrufsfrist im Versandhandel beginnt erst zu laufen, wenn der tatsächliche Empfänger die Ware erhalten hat. Im Falle einer Annahme durch den Nachbarn beginnt der Fristenlauf also erst dann, wenn dieser Nachbar das Paket dem eigentlichen Adressaten überbracht hat, und nicht schon mit der Ablieferung durch den Zustelldienst (vgl. aktuell AG Winsen, Urt. v. 28.06.2012, Az. 22 C 1812/11). Hierdurch können sich für Versandhändler verschiedene Folgeprobleme ergeben.
Wer Nachbarn hat, kennt die Szene: Der nette Mann vom Paketdienst steht vor der Tür und möchte gern die Sendung für den Nachbarn loswerden – ist der Nachbar verreist, kann sich dieses Spiel auch täglich wiederholen. Schön für den Nachbarn: Die zweiwöchige Frist für den Widerruf beginnt nach aktueller Rechtsprechung erst zu laufen, wenn er die Ware vom Nachbarn in Empfang nimmt. Schlecht für den e-Trader: Er weiß nicht, wann der Fristenlauf beginnt und in der Zeit vor Fristbeginn auch nur vage, wo sich seine Ware befindet.
Die Rechtsprechung betätigt in solchen Fällen jedoch ausdrücklich den verzögerten Fristenlauf zugunsten des Verbrauchers. Aktuell liegt beispielhaft ein Urteil des Amtsgerichts Winsen vor, das in einem derart gelagerten Fall über den Beginn des Fristenlaufs zu entscheiden hatte (vgl. AG Winsen, Urt. v. 28.06.2012, Az. 22 C 1812/11; mit weiteren Nachweisen):
“Mit der Übergabe an den Empfänger ist die Sache jedenfalls auch abgeliefert, wenn die Sache dem Käufer so überlassen ist, dass er sie untersuchen kann. Beim Versendungskauf ist die Sache dann abgeliefert, wenn die Sache beim Verkäufer tatsächlich übergeben wird. […]
Etwas anderes gilt nur dann, wenn der Empfänger einen bestimmten Nachbarn bevollmächtigt hat, für ihn Sendungen entgegenzunehmen und damit eingestehen will, dass die Sache ihm als zugestellt gilt (§ 171 ZPO) , wobei der Vertreter eine schriftliche Vollmacht vorzulegen hätte.“
Schließlich gehöre der Nachbar nicht zum „Lager“ des eigentlichen Kunden und wolle auch keine rechtlich verbindlichen Handlungen setzen, sondern lediglich dem Lieferdienst einerseits und seinem Nachbarn andererseits unnötige Wege ersparen:
“Dieser Nachbar will sowohl zur Entlastung des Lieferunternehmens auftreten, damit dieses nicht erneut erscheinen muss, als auch als Service für den Empfänger, dass jener die Sache bald entgegennehmen kann […].
Ein solcher Nachbar befindet sich nicht im Lager des Empfängers und will und soll nicht als Bevollmächtigter des Empfängers auftreten, mit der Konsequenz, dass dieser je nach Sendung zum Beispiel rechtliche Schritte einleiten müsste. Ein solcher freundlicher hilfsbereiter Nachbar soll zum Beispiel nicht Briefe mit fristgebundenem Inhalt öffnen, um zeitgerecht zu reagieren.
Auch soll er nicht das Erforderliche unternehmen, um die zugesandte Ware rechtzeitig auf Gefallen, Passen oder Mängeln zu prüfen, um dann im negativen Fall dafür Sorge zu tragen, dass rechtzeitig Widerspruch erhoben oder sonst das Erforderliche veranlasst wird.
Folglich wird durch eine Abgabe einer Sendung ‚beim freundlichen Nachbarn‘ der Empfänger gerade nicht in die Lage versetzt, ab dem Zeitpunkt der dortigen Abgabe in eine Prüfung der Ware einzutreten.”
Aus dieser Rechtslage ergeben sich nun für Versandhändler vor allem zwei verschiedene Probleme:
Erstens weiß der Versandhändler nicht, wann der Fristenlauf tatsächlich startet – im Gegenteil liegt der Fristbeginn plötzlich in den Händen einer Person, die überhaupt nicht Vertragspartei ist. Im Falle eines späteren Widerrufs kann es unter Umständen nicht mehr nachvollziehbar sein, ob die Widerrufsfrist bereits abgelaufen ist oder nicht.
Zweitens weiß der Händler auch nicht mehr, wo sich seine Ware gerade befindet und wie dort mit ihr umgegangen wird. Hieraus entsteht auch eine Beweisproblematik, falls Ware beschädigt wird, während der Nachbar sie verwahrt. In diesem Falle könnte ein böswilliger Nachbar, der die Ware durch sorglose Handhabung des Pakets beschädigt oder zerstört hat, für zusätzliche Schwierigkeiten sorgen.
Immerhin zeigt der Richter auch Verständnis für die Problemlage, mit der sich Händler hier konfrontiert sehen – zu lösen vermag er sie allerdings auch nicht:
“Das Gericht hat auch Verständnis dafür, dass die Beklagte im Fernabsatzgeschäft so manche Unerfreulichkeiten erlebt. Der Unterzeichner hält über Regelungen des Fernabsatzgesetzes immer mal wieder Vorträge und bringt Beispiele, die nach traditionellem kaufmännischem Denken als Überforderung des Kaufmanns eingestuft werden könnten.
Es ist jedoch eine Tatsache, dass der europäische Richtliniengeber in etlichen Bereichen den Kunden enorme Rechte eingeräumt hat. Die deutsche Rechtsprechung hat dieses im Rahmen der richtlinienkonformen Auslegung umzusetzen und natürlich zu respektieren.
Deshalb darf im vorliegenden Fall das Ziel des europäischen Richtliniengebers, dem Kunden im Fernabsatzvertrag ein gesichertes Prüfungsrecht zu gewährleisten, nicht aus den Augen gelassen werden und war bei der Auslegung des Begriffs ‚beim Empfänger eingegangen‘ richtlinienkonform zu berücksichtigen.”
Für e-Trader, die diese Probleme umgehen wollen, bleibt letztlich nur eine Lösung: Sie müssen den Zusteller entsprechend anweisen, die Ware nur im Haushalt des Käufers abzugeben und nicht bei einem Nachbarn. Auch dies zieht zwar möglicherweise Schwierigkeiten bei der Zustellung nach sich, schaltet aber zumindest Beweisprobleme bezüglich Fristenlauf und Haftung aus.
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