Beginnt die Widerrufsfrist bereits mit Zustellung beim Nachbarn?
Oft sind Verbraucher bei Zustellversuchen nicht persönlich anzutreffen. Anstatt Pakete für einen neuen Zustellversuch wieder mitzunehmen, übergeben sie viele Zusteller dann einem Nachbarn. Was gilt hier aber in Bezug auf die Widerrufsfrist? Beginnt sie bereits mit Zustellung beim Nachbarn zu laufen oder erst dann, wenn der Empfänger das Paket vom Nachbarn entgegennimmt? Wir klären auf.
I. Anlauf der Widerrufsfrist bei unaufgeforderter Zustellung beim Nachbarn?
Die meisten Fälle der Nachbarszustellungen erfolgen ohne eine entsprechende Anweisung oder Übergabegenehmigung des Verbrauchers. Das Zustellpersonal versucht auf gut Glück, die Ware an irgendeinen der umliegenden Anwohner zuzustellen.
Hierzu ein kleines Beispiel:
Verbraucher X bestellt bei Händler Y einen Standmixer. Das beauftragte Versandunternehmen tätigt am 02.10.2024 einen Zustellversuch bei X, trifft ihn aber nicht an, da X bis einschließlich zum 07.10.2024 verreist ist. Das Versandunternehmen übergibt das Paket daher am 02.10.2024 an Nachbar N, wo es X am 07.10.2024 abholt. X hatte N nicht als Wunschnachbarn angegeben und auch keine Zustellanweisung erteilt.
Mit Erklärung vom 18.10.2024, zugegangen am selben Tag, widerruft X gegenüber Y den Kaufvertrag. War der Widerruf noch rechtzeitig?
Gemäß § 356 Abs. 2 Nr. 1 a BGB wird bei einem Verbrauchsgüterkauf der Anlauf der Widerrufsfrist grundsätzlich an den „Erhalt der Waren“ durch den Verbraucher geknüpft.
Gemeint ist die tatsächliche physische Übergabe an den bestimmungsgemäßen Sendungsempfänger.
Erforderlich ist für den Fristbeginn also, dass die Ware dergestalt in den Machtbereich des Käufers gebracht worden ist, dass dieser sie – etwa auf Mangelfreiheit oder Funktionstauglichkeit hin – untersuchen kann (MüKo BGB, § 356, Rn. 10).
Unaufgeforderte Ersatzzustellungen beim Nachbarn lösen den Beginn der Widerrufsfrist daher noch nicht aus.
Wird die Ware ohne Anweisung des Verbrauchers beim Nachbarn hinterlegt, beginnt die Frist erst ab dem Datum zu laufen, an dem der Verbraucher die Ware vom Nachbarn physisch in Besitz nimmt (s. auch AG Winsen, Urt. v. 28.06.2012, Az. 22 C 1812/11).
Weil es sich bei der Vorschrift des § 356 BGB um eine Umsetzungsnorm der europäischen Verbraucherrechterichtlinie und mithin um europäisches Sonderrecht handelt, kommen ausnahmsweise auch Übergabefiktionsnormen des BGB nicht zur Anwendung. Entgegen dem sonst geltenden § 446 Satz 2 BGB kann die physische Inbesitznahme der Ware durch den Verbraucher insofern nicht dadurch ersetzt werden, dass der Verbraucher durch einen erfolglosen Zustellversuch bei ihm gegebenenfalls in Annahmeverzug versetzt wird (MüKo BGB, § 356, Rn. 11). Für den Beginn der Widerrufsfrist wird der Annahmeverzug einer physischen Übergabe gerade nicht gleichgestellt.
Für den obigen Beispielsfall bedeutet diese rechtliche Einordnung, dass maßgeblicher Zeitpunkt für den Anlauf der Widerrufsfrist der Tag des 07.10.2024 war, an welchem X die Ware von Nachbar N entgegennahm. Die Widerrufsfrist begann daraufhin am 08.10.2024 um 0:00 Uhr zu laufen und endete erst mit Ablauf des 21.10.2024. Die Widerrufserklärung des X vom 18.10.2024 war damit noch rechtzeitig.
II. Anlauf der Widerrufsfrist bei Zustellung an Nachbarn auf Wunsch/Weisung des Verbrauchers?
Anders als unaufgeforderte Nachbarszustellungen sind Fälle zu behandeln, in denen der Verbraucher dem Versandunternehmen gegenüber einen Wunschnachbarn für die Zustellung benennt oder gar spezifisch zur Zustellung an einen konkreten Nachbarn anweist.
Auch hierzu ein Beispiel:
Verbraucher X bestellt bei Händler Y eine Mikrowelle. Weil er vom 01.10.2024 bis zum 07.10.2024 im Urlaub ist, gibt er gegenüber dem Versandunternehmen an, die Zustellung solle an Wunschnachbar N erfolgen. Dort wird das Paket am 02.10.2024 zugestellt. Am 07.10.2024 nimmt X nach seiner Rückkehr die Ware von Nachbar N in Empfang. Mit Erklärung vom 18.10.2024, zugegangen am selben Tag, widerruft X gegenüber Y den Kaufvertrag. War der Widerruf noch rechtzeitig?
Nach § 356 Abs. 2 Nr. 1 a BGB läuft bei Verbrauchsgüterkäufen die Widerrufsfrist auch dann an, wenn nicht der Verbraucher selbst, sondern ein von ihm benannter Dritter die Ware erhält, also physisch in Besitz nimmt.
Die Benennung eines Dritten hat zwar grundsätzlich gegenüber dem Händler selbst zu erfolgen. Nach herrschender Auffassung genügt aber auch die Benennung gegenüber dem Versandunternehmen, das als Erfüllungsgehilfe (§ 278 BGB) des Händlers mit dessen Wissen und Wollen die Lieferpflicht übernimmt und daher dem „Lager“ des Händlers zuzuordnen ist.
Mit der Anweisung zur Zustellung an einen konkreten Nachbarn benennt der Verbraucher einen Dritten für die Entgegennahme. Dies hat rechtlich zur Folge, dass die physische Übergabe an den Dritten der Übergabe an den Verbraucher selbst nach § 356 Abs. 2 Nr. 1 a BGB gleichgestellt wird.
Wünscht der Verbraucher eindeutig die Zustellung an einen Nachbarn, verliert er seine Schutzwürdigkeit in Bezug auf den Anlauf der Widerrufsfrist erst bei persönlicher Entgegennahme. Insofern ist bei Wunschzustellungen an Nachbarn bereits der Ablieferungstermin bei diesen der maßgebliche Zeitpunkt für den Anlauf der Widerrufsfrist.
Bezogen auf den obigen Beispielsfall war wegen der Zustellungsanweisung von X bereits die Ablieferung an N am 02.10.2024 für den Anlauf der Widerrufsfrist entscheidend. Die Frist begann am 03.10.2024 um 0:00 Uhr zu laufen und endete mit Ablauf des 17.10.2024. Der Widerruf des X erst am 18.10.2024 war daher verfristet.
III. Beweisfragen
Weil Händler regelmäßig keine Einsicht in die Zustellungspräferenzen der bestellenden Verbraucher erlangen, werden sie bei Nachbarszustellungen vor dem Hintergrund des Widerrufsfristablaufs regelmäßig mit Beweisproblematiken konfrontiert. Aus den Sendungsbelegen lässt sich insofern meist nur entnehmen, dass die Sendung zugestellt wurde, nicht aber, an wen.
Beweisbarkeitsprobleme gehen hierbei zu Lasten des Händlers.
Gemäß § 361 Abs. 3 BGB trifft den Händler die Beweislast, wenn der Beginn der Widerrufsfrist streitig ist.
Er muss also nachweisen, dass der Verbraucher die Ware zum Stichtag physisch in Besitz genommen hat. Mangels Einblicks in Vorgänge innerhalb der Sphäre des Verbrauchers wird diese Beweislast aber durch eine sekundäre Behauptungslast des Verbrauchers abgemildert.
Legt der Händler die Zustellung zu einem bestimmten Tag dar, heißt dies, dass der Verbraucher dann Umstände offenlegen und beweisen muss, aus denen sich ergibt, dass zum Stichtag keine Zustellung an ihn, sondern an einen Nachbarn erfolgte, und dass der Verbraucher zur Zustellung an diesen Nachbarn auch nicht angewiesen hat.
IV. Fazit
Ist ein Verbraucher bei einem Zustellungsversuch nicht anzutreffen und wird die Ware deshalb unaufgefordert bei einem Nachbarn abgeliefert, lässt dies die 14-tägige Widerrufsfrist grundsätzlich nicht anlaufen. Maßgeblich für den Beginn der Widerrufsfrist ist vielmehr allein die physische Inbesitznahme durch den bestellenden Verbraucher selbst. Gleiches gilt auch für die Hinterlegung der Sendung in Paketshops oder Packstationen.
Ausnahmsweise ersetzt die Zustellung beim Nachbarn die physische Inbesitznahme des Verbrauchers aber dann, wenn der Verbraucher zur Ablieferung bei diesem Nachbarn konkret angewiesen oder den Nachbarn in Abwesenheitsfällen generell als Wunschnachbarn für die Ersatzzustellung benannt hat.
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