EuGH: fordert Erlaubnis des Internetvertriebs in selektiven Vertriebssystemen
Viele Hersteller wollen ihr Fachhändlernetz gegen Konkurrenz aus dem Internet schützen. Im Allgemeinen erfolgt dies im Rahmen einer Regelung des Fachhändlervertrages, der einen Vertrieb über das Internet ausschließt. Dem hat der EuGH eine klare Absage erteilt.
In der Entscheidung Pierre Fabre Dermo-Cosmetique SAS, Rechtssache C-439/09 vom 21. Oktober 2011 hatte sich der Europäische Gerichtshof mit der Frage zu befassen, ob es zulässig sei, den Vertrieb eines bestimmten Produktes über das Internet vollständig auszuschließen. Der zugelassene Vertriebshändler musste sich verpflichten, die Produkte „nur in einer materialisierten und individualisierten Verkaufsstelle abzugeben“. Außerdem musste in diesen Räumlichkeiten stets eine für die Produkte besondere geschulte Person anwesend sein.
Zuerst stellte der EuGH klar, dass selektive Vertriebssysteme in Ermangelung einer objektiven Rechtfertigung als „bezweckte Wettbewerbsbeschränkungen“ zu betrachten sind und daher dem Kartellverbot des europäischen Kartellrechts aus dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) unterfallen.
Selektive Vertriebssysteme sind definiert als Vertriebssysteme, in denen sich der Anbieter verpflichtet, die Vertragswaren oder -dienstleistungen unmittelbar oder mittelbar nur an Händler zu verkaufen, die anhand festgelegter Merkmale ausgewählt werden, und in denen sich diese Händler verpflichten, die betreffenden Waren oder Dienstleistungen nicht an Händler zu verkaufen, die innerhalb des vom Anbieter für den Betrieb dieses Systems festgelegten Gebiets nicht zum Vertrieb zugelassen sind.
Die Hürden für eine objektive Rechtfertigung, den Vertrieb über das Internet vollständig auszuschließen, hängt der EuGH hoch: Nur Produkte deren Eigenschaften ein besonderes Fachhändlernetz erfordern, weil eine Beratung durch einen Fachhändler zur Wahrung der Produktqualität und zur Gewährleistung des richtigen Gebrauchs notwendig ist, dürfen vom Vertrieb über das Internet ausgeschlossen werden. Darüber hinaus müssen diese festzulegenden Kriterien nicht über das erforderliche Maß hinausgehen. Bei einem Kosmetik- bzw. Pflegeprodukt hat der EuGH diese Notwendigkeit nicht gesehen und einen prinzipiellen Verstoß gegen das Kartellrecht bejaht. Er hat sich dann den in der Vertikal Gruppenfreistellungsverordnung zur Freistellung vom Kartellverbot vorgeschlagenen Ausnahmefällen zugewandt.
Die Gruppenfreistellungsverordnung ist eine in einer EU Verordnung festgeschriebene Liste, die Anhaltspunkte gibt, welche Wettbewerbsbeschränkungen das europäische Kartellrecht für noch zulässig hält. Es gibt solche Verordnungen für ziemliche viele Bereiche der Wirtschaft. Da es sich hier um Vertriebsverträge handelt, ist die sogenannte vertikal Gruppenfreistellungsverordnung (Verordnung (EU) Nr. 330/2010) hier einschlägig.
Nachdem der EuGH den Anwendungsbereich der vertikal Gruppenfreistellungsverordnung festgestellt hat, geht alles ganz schnell. Die vertikal Gruppenfreistellungsverordnung verbietet nämlich
die Beschränkung des aktiven oder passiven Verkaufs an Endverbraucher durch auf der Einzelhandelsstufe tätige Mitglieder eines selektiven Vertriebssystems; dies gilt unbeschadet der Möglichkeit, Mitgliedern des Systems zu untersagen, Geschäfte von nicht zugelassenen Niederlassungen aus zu betreiben.
Der Vertrieb über eine Internet-Website, also einen Webshop, stelle nach dem EuGH auf jeden Fall einen passiven Verkauf dar. Der Internet-Händler ist insofern passiv, als er nicht aktiv auf die Kunden in Form von Werbemaßnahmen zugeht, sondern nur seine Website in das Internet stellt. Und eine Vertragsklausel, die das Internet als Vertriebsform verbietet, „bezweckt zumindest die Beschränkung des passiven Verkaufs an Endverbraucher, die über das Internet kaufen möchten“. Das generelle Verbot des Vertriebs über das Internet wäre damit kartellrechts-widrig.
Auch auf die noch verbleibende Möglichkeit nach der vertikal Gruppenfreistellungsverordnung, „Mitgliedern des Systems zu untersagen, Geschäfte von nicht zugelassenen Niederlassungen aus zu betreiben“, hat sich der EuGH kurz angebunden nicht eingelassen. Mit „nicht zugelassenen Niederlassungen“ seien immer nur feste Verkaufsstellen also Ladengeschäfte gemeint, nicht das Internet. Alles andere führe zu einer unzulässigen Einschränkung des Kartellverbots. Wie wir finden zurecht: Eine Internetseite ist nämlich kein Vertriebsort, sondern ein alternativer Vertriebsweg!
Praxistipp
Eine Beschränkung oder ein Ausschluss des Vertriebes über das Internet ist sehr problematisch und muss immer individuell gerechtfertigt werden. Notwendig sind zwingende Argumente, dass die Qualität des Produktes oder der richtige Gebrauch bei einem Vertrieb über das Internet nicht gesichert werden kann. Den Beweis dazu muss der Hersteller antreten. Zweifel gehen zu seinen Lasten.
Während der komplette Ausschluss des Vertriebs über das Internet durch den EuGH faktisch komplett verboten wurde, besteht immer noch die Möglichkeit, den Vertrieb über das Internet selbst zu regulieren. Siehe dazu auch unseren Artikel "Ausschluss des Verkaufs über Internet-Auktionsplattformen im selektiven Vertriebssystem".
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